Cengiz Aktar analysiert kritisch die anhaltenden Auswirkungen der Leugnung des Völkermords an den Armenier*innen auf die Staatsbildung, die Sozialethik und die politische Kultur der Türkei. Er argumentiert, dass das ungelöste Problem der Erinnerung den systemischen Verfall im Land fortsetzt.

Das Abstammungsverhältnis zwischen Ideen und Praktiken der Politik der osmanischen Ära und der modernen türkischen Politik ist bemerkenswert, wenn es um die Erinnerung geht. Es ist, als ob die Zeit stehen geblieben wäre, so auffällig und konstant sind die Ähnlichkeiten. Das liegt daran, dass die Fundamente immer noch da sind, unangetastet und unantastbar dort, wo sie ein großes Verbrechen verbergen, den Völkermord an den osmanischen Armenier*innen und seine Nachwehen, die alle nicht-muslimischen Bürger*innen sowie nicht-türkische und nicht-sunnitische Gruppen betreffen.
Das Verbrechen scheint keinen Schuldigen zu haben und ist daher anonym. Es bleibt ungestraft, absichtlich und kollektiv ungelernt. Dennoch ist sein Geist allgegenwärtig, nicht nur am Himmel, sondern auch im modernen türkischen Gemeinwesen. Seine Zerstörungskraft ist phänomenal, fast übernatürlich. Es ist eine umgekehrte Gerechtigkeit, eine Vergeltung in dem Sinne, dass die Türkei ein Jahrhundert nach dem Völkermord erschöpft und in einem erschütternden Ausmaß entinstitutionalisiert ist. Es scheint, dass das ungestrafte Verbrechen zu einem indirekten kathartischen Prozess geführt hat, zu dem weder das osmanische noch das türkische Gemeinwesen bereit oder in der Lage war.
Es bleibt die Frage, ob die Türkei, die sich derzeit in einem Zustand des moralischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruchs 1 befindet, endlich in der Lage sein wird, sich selbst im Spiegel zu betrachten und ihr Gewissen zu prüfen, um sich von ihrem Grundübel zu befreien und ihre Seele und ihr Wesen zu reinigen.
Wenn dies der Fall ist, muss sie auf der Pionierarbeit des Gedenkens aufbauen, die in den letzten Jahren von der Zivilgesellschaft geleistet wurde, die aber vorerst zum Schweigen gebracht wurde, weil es nicht möglich war, das Gründungsverbrechen umfassend aufzudecken. Jeder Versuch, dies zu tun, hat das Potenzial, das Fundament der Nation selbst in Frage zu stellen.
Doch in den letzten zwei Jahrzehnten ist der Dschinn der Erinnerung aus seiner Flasche gekommen, um die schwierigen Wege der Versöhnung zwischen den Völkern des Osmanischen Reiches zu erkunden. Glücklicherweise werden diese Erinnerungsbemühungen, die ihren Ursprung in der Zivilgesellschaft haben, fortbestehen.
Wir sollten die vielfältigen Paradoxien und Dilemmata der Türkei untersuchen, die sich aus den Knoten der Erinnerung ergeben.
1. Die moderne Türkei und die türkische Nation wurden auf einer Katastrophe aufgebaut, nämlich der ethnisch-religiösen Säuberung und Vernichtung der nicht-muslimischen Gemeinschaften des späten Osmanischen Reiches.
Das Osmanische Reich brach größtenteils unter den Hieben der aufstrebenden Nationen zusammen, die sich vom Imperialismus und Kosmopolitismus emanzipieren wollten. Beginnend mit dem griechischen Aufstand im Jahr 1821 gelang es verschiedenen ethnischen Gruppen auf dem Balkan und in Ägypten, mit militärischer Unterstützung der europäischen Großmächte, durch Kriege ihre eigenen Nationalstaaten zu schaffen.
Für die Türken, die als letzte versuchten einen eigenen Nationalstaat zu schaffen, war eine „nationale Identität“ eine Notwendigkeit. Sie musste erfunden werden, um das Überleben des von den Osmanen geerbten Staates zu sichern und um weiterhin Teil des neuen Bündnisses der sich bildenden Nationen zu sein. Diese Nation musste unbedingt auf einem optimalen Fundament aufgebaut werden, das die potenziellen Beteiligten des nationalen Projekts zusammenhalten konnte.
Leider gab es im späten Osmanischen Reich außer der muslimischen Religion (natürlich sunnitisch) kein Motiv, das die Mehrheit hätte vereinen können: weder die Ethnie, noch die Sprache, noch die Geschichte, noch die Kultur, noch ein Zollverein, wie es bei der deutschen Einheit der Fall war.
So konnte und sollte die neue Nation, deren wichtigster Kitt für ihre nationalistischen Ideologen nur der Islam sein konnte, keine Nicht-Muslime aufnehmen oder enthalten. Die ethnisch-religiöse Säuberung, die 1894 mit den ersten Massentötungen von Armenier*innen begann, dauerte dreißig Jahre lang, bis 1924, als sie durch einen Bevölkerungsaustausch mit Griechenland auf der Grundlage der Religionszugehörigkeit "gekrönt" wurde.
Letztlich wurden etwa drei Millionen osmanische und dann türkische Bürger*innen, was etwa 20 Prozent der türkischen Bevölkerung in den 1920er Jahren entspricht, durch verschiedene Mittel eliminiert: Völkermord, Pogrome, Zwangsexodus und Bevölkerungsaustausch. Es handelte sich um Armenier*innen, Griech*innen, Juden und Jüdinnen und Syrer*innen.
2. Paradoxerweise hat die allgemeine Dekadenz, die auf das Gründungsübel zurückzuführen ist, das über ein Jahrhundert lang zum Aufbau der Nation, der Wirtschaft, der soziopolitischen Ethik, der Politik und der Kultur beigetragen hat, ein unterminierendes Werk vollbracht, das nun das türkische Gemeinwesen zersetzt. Diese Zersetzung ist in der Tat eine Art Vergeltungsjustiz für die Gräueltaten der Vergangenheit. Um diesen Zustand zu bewältigen und einen Heilungsprozess in Gang zu setzen, scheint eine landesweite Erinnerungsarbeit unumgänglich.
Andererseits scheint die Anerkennung des Völkermordes und anderer Gräueltaten als Gründungsakte der Nation teleologisch nicht durchführbar zu sein, da dies einer Infragestellung der eigentlichen Grundlagen der Nation gleichkäme. Das Dilemma scheint weitreichend zu sein.
Wir wissen aus Erfahrung, dass Nationen, die die Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten ihrer Vergangenheit nicht anerkennen, dazu verdammt sind, mit ihnen zu leben, mit ihren Gespenstern, und dass sie ständig dabei sind den Preis dafür zu zahlen, wenn auch verspätet und indirekt.
Natürlich gab es keine wiedergutmachende Gerechtigkeit im Osmanischen Reich und der Türkei. Die Türkei hat ihr „Nürnberg“ nicht durchlaufen. Die einzige Ausnahme war das Kriegsverbrechertribunal 1919 in Istanbul, das von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs besetzt war. Diese Prozesse hatten keine Auswirkungen auf die Justiz: Nur zwei Beamte wurden verurteilt und ihre Todesurteile vollstreckt. Im Gegenteil, die Täter, die sich an ihren Mitbürger*innen vergangen hatten, kamen mit dem Massenmord und den damit verbundenen materiellen Belohnungen davon. Sogar die beiden bestraften Beamten wurden post mortem wieder eingesetzt und ihre Familien erhielten Eigentum. 2
Aber sind sie wirklich ungestraft davongekommen? Man kann davon ausgehen, dass dreißig Jahre intensiver staatlich geförderter Verbrechen (1894-1924) auf andere Weise vergolten wurden, nämlich durch die Pervertierung des gesamten Gemeinwesens, sowohl des Staates als auch der Gesellschaft.
Wie sonst lässt sich der Abstieg der Türkei, die vor nicht allzu langer Zeit noch der aufgehende Stern der Region war, in die Hölle verstehen? Ist es nicht das Land, das von einer Art Fluch heimgesucht wird, der aus einer jahrhundertealten Unwahrheit resultiert? Ist es nicht die Verwünschung der Männer und Frauen, die nicht einmal einen Sarg haben, der unbewaffneten Armenier*innen, der Griech*innen des Pont-Euxin und der Syrer*innen, die in ihrem eigenen Land umgekommen sind?
Würden die Bewohner*innen der heutigen Türkei nicht von unendlichen Seelenstürmen heimgesucht werden, verursacht durch die Geister, die seit hundert Jahren in ihrem Himmel schweben, begleitet von denen der Griech*innen und Syrer*innen, später der Alevit*innen und Kurd*innen, von allen ihren Mitbürgern*innen, die ein dunkles Schicksal ereilt hat?
Denn es scheint nicht möglich, dass ein Nationalstaat, der auf einer Reihe von Gräueltaten beruht, die zur Vernichtung von 20 Prozent seiner Bevölkerung geführt haben, weiterhin normal funktionieren kann, ohne dass er für das Geschehene zur Rechenschaft gezogen wird.
Aus der Sicht der soziopolitischen Ethik haben ungestrafte Verbrechen einerseits zu einer öffentlichen Norm der Nichtverantwortlichkeit im Sinne von „Unverantwortlichkeit“ und Undurchsichtigkeit und andererseits zu einer Kultur der Amoralität, des Vergessens und des Nichthinterfragens geführt. Diese Muster sind zu den dominierenden Merkmalen des sozialen Verhaltens, zum Modus Operandi der politischen und sozialen Ethik geworden. Sie haben das Leben des Gemeinwesens, des Staates, der Gesellschaft und der Einzelnen durchdrungen, ohne dass diese sich dessen bewusst sind. Es ist auch dem Habitus der Straflosigkeit und allen damit verbundenen Verzerrungen zu verdanken, dass das gegenwärtige Regime durch die Kleptokratie und die übermäßige Konzentration der Exekutivgewalt in wenigen Jahren einen noch nie dagewesenen institutionellen und moralischen Friedhof geschaffen hat.
Auf makroökonomischer Ebene sind mit dem Verschwinden der nicht-muslimischen Bürger*innen die nicht-muslimische Bourgeoisie, ihre Produktions- und Handelskompetenzen sowie die gesamte wirtschaftliche Arbeitsteilung verschwunden.
Historisch gesehen bildete die Beschlagnahmung und Ausplünderung des Eigentums und des Kapitals der nicht-muslimischen Bürger*innen durch den Staat die ursprüngliche Grundlage der Volkswirtschaft.
Doch dann hatte die Enteignung schreckliche Folgen für das Gemeinwesen: Eine Kultur der Erpressung und der Plünderung wurde zur Gewohnheit, oft gerechtfertigt durch das Gesetz der Eroberung (Dschihad), das die Enteignung erlaubt.
Um es kurz zu machen: Ein Gemeinwesen, das mit einem massiven Verbrechen gegen seine Mitbürger*innen davongekommen ist, ohne jegliches Gefühl für Verantwortung, Schuld, Scham, Rechenschaftspflicht und Erinnerung, ist in der Lage, jedes künftige Übel von viel geringerer Bedeutung zu verdauen.
Die kathartische Arbeit erscheint also nicht nur als Gewissenserforschung oder postfaktische Reue, sondern bildet die Voraussetzung für eine umfassende Heilung, die das gesamte Gemeinwesen umfasst. Es scheint immer offensichtlicher, dass die Türkei ohne eine kathartische Arbeit nicht in der Lage sein wird, sich mit den Armenier*innen, den Griech*innen, den Kurd*innen oder sonst jemandem auszusöhnen, und vor allem nicht mit sich selbst in Form eines "Gesellschaftsvertrags" im edlen Sinne der Redewendung. Das Lösen des Knotens der Erinnerung erscheint als conditio sine qua non.
3. Anfang der 2000er Jahre wurde zum ersten Mal eine konstruktive Erinnerungsarbeit von einem Teil der Zivilgesellschaft geleistet, doch das Gründungsübel verhindert ihre Ausweitung.
Zu Beginn dieses Jahrtausends war die Frage berechtigt, ob die Türkei an der Schwelle zur Schaffung einer neuen Erzählung über den Völkermord und andere Verbrechen steht, die während der schmerzhaften Nationenbildung im späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts begangen wurden. Eine Sprache, die mehr als nur die Opfer selbst einschließt und so den Weg für eine gemeinsame Erinnerung zwischen Türken und ihren osmanischen Landsleuten ebnet.
Um substanziell, kohärent und dauerhaft zu sein, muss Erinnerungsarbeit Teil einer gesellschaftlichen Dynamik sein, die gewährleistet, dass sie den Gesetzgeber beeinflussen können, indem sie sein Handeln vorwegnehmen.
In diesem Zusammenhang weist die türkische Erinnerungspolitik drei wesentliche Merkmale auf.
Erstens kann eine an Amnesie leidende Gesellschaft wie die türkische nicht sinnvoll durch den Staat geheilt werden, der sie buchstäblich ihres Gedächtnisses beraubt und die Vergangenheit zum Schweigen gebracht hat.
Zweitens haben ganze Teile der osmanischen und später der türkischen Gesellschaft die ihnen von den Behörden auferlegte Arbeit der Erinnerungsverdrängung bereitwillig angenommen, um die Enteignung des Eigentums der Opfer rückwirkend zu legitimieren. Manchmal nachdem sie der bewaffnete Arm der ethnischen Säuberung waren, wie in Zentral- und Ostanatolien sowie im Pont-Euxin. Es ist kein Zufall, dass das Idiom "Armenier" oder "Ermeni" im Türkischen ein Affront ist.
Und drittens hat die Introspektion nur dann einen Sinn, wenn sie im Kern der Gesellschaft verwurzelt ist, was für die Türkei sicherlich noch mehr gilt als für andere Länder mit vergleichbarer Vergangenheit.
Ein aussagekräftiges Beispiel für dieses Muster ist die Entschuldigung des deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt aus dem Jahr 1970, der Kniefall vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos. Diese wurde von einem Deutschland, das offiziell für die Verbrechen der Nazis verantwortlich war und sich zudem sehr aktiv für die obligatorische Aufklärung über die NS-Vergangenheit einsetzte, mit großer Zurückhaltung aufgenommen. Die gleiche Zurückhaltung war auch beim Bau des Jüdischen Museums in Berlin zu beobachten, der eine heftige öffentliche Kontroverse auslöste. In ähnlicher Weise tut sich die Gesellschaft der ehemaligen DDR, in der die NS-Verbrechen unter der bleiernen Decke des wissenschaftlichen Sozialismus begraben wurden, immer noch schwer mit der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit und bleibt in weitaus größerem Maße als Westdeutschland für die Gespenster des Nationalsozialismus anfällig.
In der Türkei entstanden Anfang der 2000er Jahre unter dem Eindruck der Kandidatur für den Beitritt zur Europäischen Union eine Reihe von Initiativen zur Erinnerungspolitik, die ausschließlich aus der Zivilgesellschaft kamen. Die folgende Zusammenstellung ist keineswegs endgültig.
Ein bezeichnendes Beispiel dafür, wie das akademische und wissenschaftliche Gedächtnis in Anspruch genommen wurde, war die historische Konferenz, die im November 2011 an einem der Tatorte, der kurdischen Stadt Diyarbekir, zum Thema "Wirtschafts- und Sozialgeschichte von Diyarbekir und Umgebung - 1838 bis 1938" stattfand 3 und die Enkel*innen von Opfern und Tätern zusammenbrachte, um eine gemeinsame Erinnerung zu wecken. Im November 2012 folgte, diesmal in Mardin, eine weitere Konferenz zum gleichen Thema, die sich auf die Syrer*innen konzentrierte.
Im Rahmen individueller Erinnerungsarbeit begannen viele Bürgerinnen und Bürger, in ihren Familien nach nicht-muslimischen Vorfahren zu suchen die freiwillig oder gewaltsam konvertiert waren, oder nach weiblichen Waisen, deren Eltern und männliche Verwandtschaft massakriert wurden. Das Ende des jahrhundertealten Schweigens wurde in zahlreichen Büchern mit Zeugnissen festgehalten.
Was das öffentliche und kollektive Gedächtnis betrifft, so ist die Entschuldigungskampagne vom Dezember 2008 4, bei der ich die Ehre hatte, sie zu initiieren, nur eines von vielen Beispielen. Dieser Appell, der am 15. Dezember von rund 350 Intellektuellen und Meinungsführern im Internet veröffentlicht wurde, hat 32.454 Unterschriften erhalten. In diesem Zusammenhang sind auch die öffentlichen Gedenkfeiern zum Völkermord zu erwähnen, von denen die erste am 24. April 2010 in Istanbul unter freiem Himmel stattfand. 5
2005, am fünfzigsten Jahrestag des Pogroms vom 6./7. September 1955, das sich gegen alle nicht-muslimischen Minderheiten in Istanbul richtete, wurden zum ersten Mal Treffen, Gedenkveranstaltungen und verschiedene andere öffentliche Aktivitäten organisiert. Im Jahr 2014 wurde eine internationale Konferenz anlässlich des fünfzigsten Jahrestags der Vertreibung der Griech*innen aus Istanbul abgehalten. Die öffentliche Verwendung des Wortes "Völkermord", das zwar immer noch indirekt durch das Strafgesetzbuch verboten ist, wird zunehmend hörbar.
Im Bereich des kulturellen und religiösen Gedenkens wurden zahlreiche Restaurierungsprojekte, oft von lokalen Gemeinden, an armenischen Denkmälern und Gebäuden (Surp Kharch in Aghtamar, Surp Giragos in Diyarbekir, Surp Krikor Lusavorich in Kayseri, Surp Vortvots Vorodman in Istanbul) sowie an griechischen (Sumela-Kloster) und jüdischen (Große Synagoge in Edirne) heiligen Stätten durchgeführt.
In Gotteshäusern wie dem himmlischen griechischen Kloster Sumela an der Schwarzmeerküste wurden Messen gefeiert, oft zum ersten Mal seit fast einem Jahrhundert.
Wanderausstellungen über armenische und griechische Architekten in Istanbul tourten durch das Land und das Ausland.
Tatsächlich wurden fast alle Tabus in Rekordzeit gebrochen und der Weg für die Menschen geebnet, frei über ihre Erinnerungen zu sprechen.
Doch in der heutigen freiheitsfeindlichen Umgebung gehören all diese Aktionen der nicht allzu fernen Vergangenheit an. Man muss sich nur an den Ausbruch öffentlicher Leugnungen vom 24. April 2021 erinnern 6, nachdem Präsident Biden das Wort "Völkermord" im Zusammenhang mit den Massakern ausgesprochen hatte, um die 180-Grad-Wendung deutlich zu machen.
Ich habe jedoch den Eindruck, dass "der Dschinn aus der Flasche ist" und nie wieder dahin zurückkehren wird. Und dass die türkische Zivilgesellschaft, was auch immer geschehen mag, nicht aufhören wird die Wahrheit aufzudecken, ihr Gedächtnis wiederzuerlangen und damit auch ihre Seele und die Zukunft des Landes zu retten. Eines Tages, vielleicht...
Zum heutigen Zeitpunkt aber bleibt das grundsätzliche erinnerungspolitische Versagen von Staat und Gesellschaft der Türkei sehr greifbar. Im Sinne des griechischen Wortes μνησικακία (Groll, Ressentiment) verdirbt dieses Grundübel das öffentliche Bewusstsein. Paradoxerweise wird die Türkei jedoch umso kränker, je weniger sie über den Völkermord und andere Gräueltaten weiß, je mehr sie versucht, sie zu ignorieren, so dass die Wahrheit immer nur dann „befreit“ wird, wenn der Rest der Welt das genaue Gegenteil des türkischen Tabus verlautbart.
4. Heute stellt sich die Frage, ob eine umfassende kathartische Arbeit geleistet werden kann. Wie kann die Türkei handeln, um ihr inneres und äußeres Selbst zu versöhnen? Das Bewusstsein des zivilisatorischen Verlustes durch ethnisch-religiöse Säuberungen könnte zu einer umfassenden Suche nach der Vergangenheit motivieren und damit eine umfassende Erinnerungsarbeit ermöglichen.
Obwohl eine umfassende Aufarbeitung in der Region in nächster Zeit nicht in Sicht ist, ist es wichtig jetzt darüber nachzudenken. Der Völkermord an den Armenier*innen bleibt eine tiefgreifende und gemeinsame Tragödie in der Geschichte Anatoliens - eine, die in vielen Dörfern noch immer als ein verheerender und beispielloser Verlust in Erinnerung ist. Die Zerstörung einer reichen und lebendigen Zivilisation hat bleibende Spuren hinterlassen. Die Ereignisse vom 24. April 1915, als prominente armenische Intellektuelle in Konstantinopel zusammengetrieben wurden, markieren den Beginn dieses dunklen Kapitels und bleiben ein starkes Symbol für das, was verloren wurde.
Es ist ebenso wichtig, über die Widerstandsfähigkeit der Überlebenden und die kulturellen und intellektuellen Beiträge nachzudenken, die sie in den Ländern, in denen sie Zuflucht fanden, geleistet haben. Doch trotz dieser umfassenden Bemühungen fehlt es in der Türkei nach wie vor an einer umfassenden wissenschaftlichen Ausarbeitung der wirtschaftlichen und kulturellen Folgen des Völkermords in Anatolien selbst. Die Zeugnisse der Überlebenden bieten einen wichtigen Einblick, aber die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Türkei hat diese weiterreichenden Auswirkungen oft übersehen. In vielen Fällen beginnt die türkische Wirtschaftsgeschichte mit der Gründung der Republik im Jahr 1923 und vernachlässigt dabei das umfangreiche und komplexe Wirtschaftsleben, das im 19. Jahrhundert florierte und so abrupt unterbrochen wurde.
In diesem Rahmen reicht der Begriff des Völkermordes nicht aus, um alle Folgen der wahnsinnigen Entscheidung zu erfassen, die ganz Anatolien auferlegt wurde. Auf jeden Fall scheint der Begriff nicht auszureichen, um zu erklären, was danach geschah.
Von dem Zeitpunkt an, von dem aus die Geschichte der armenischen Katastrophe nur von der Diaspora weitererzählt werden konnte - entwurzelt, exportiert und außerhalb der Türkei -, fehlt ihr ein wesentlicher Teil: Sie spricht nicht von Anatolien nach 1915. In diesem Sinne ist das gemeinsame Gedächtnis vielleicht in die Katastrophe eingraviert, die das "Während" und das "Danach" umfasst. Vielleicht muss die Bezeichnung "Mets Yeghern" oder "Große Katastrophe" auf der Grundlage des gemeinsamen Gedächtnisses überarbeitet und neu definiert werden und über ihre ursprüngliche Bedeutung in der Völkermordlexikologie hinausgehen. 7
Die Kluft zwischen dem Begriff "Völkermord", der den absoluten Terror gegen die armenische Bevölkerung beschreibt, und der aus diesem Terror herrührenden heutigen Entartung ist so groß wie die Kluft zwischen der krankhaften Entscheidung der staatlichen Behörden in Istanbul, ihre armenischen Bürger zu deportieren und auszurotten, und der unermesslichen menschlichen Tragödie, die in Anatolien darauf folgte.
In der Tat gibt es unzählige Grauzonen zwischen den Opfern des Völkermords und den Tätern. Die Schicksale sind vielfältig: Viele Armenier*innen mussten ihre Identität ändern, um zu überleben, einige konvertierten zum Islam und blieben Muslime, viele andere retteten das Leben ihrer armenischen Nachbar*innen, und alle, die überlebten, litten unter den Folgen des Völkermordes, wie bereits erwähnt. Die Katastrophe ist auch die ihre.
Die Familien- und Einzelschicksale, die von der aufkeimenden Geschichtsforschung in der Türkei aufgedeckt werden, offenbaren täglich neue Dimensionen der anatolischen Katastrophe. Sie legen Zeugnis ab von einer Katastrophe, die über den Völkermord hinausgeht. Wenn die Anerkennung des Völkermords eine Frage der Gerechtigkeit ist, so kann die Erforschung der Katastrophe ihrerseits den gesamten Bereich des Leidens abdecken. Folglich kann sie dem modernen Gemeinwesen helfen, das Ausmaß des Zivilisationsverlustes zu begreifen und zu mehr Erinnerungsarbeit anzuregen.
Ebenso ist die Erinnerungsarbeit für alle anderen massakrierten und vertriebenen Ethnien und Völker notwendig, die Opfer der entstehenden Nationen in der Region wurden und homogen konzipiert wurden. Der Weg zur Versöhnung zwischen den Bürger*innen des untergehenden Osmanischen Reiches und seinem Erben, der Türkei, liegt eindeutig hier.
Alles in allem scheinen die Mühen der Erinnerung, auch wenn sie für das Überleben der Grundlagen der Türkei gefährlich sind, zwingend notwendig zu sein, um das Land vor dem moralischen, menschlichen, politischen und sozialen Zerfall zu bewahren, der sich aus ihrem Fehlen ergibt.
Dieser Beitrag erschien zuerst beim Regionalbüro Südkaukasus der Heinrich-Böll-Stiftung. Dies ist ein mit DeepL automatisch übersetzter und überarbeiteter Artikel.
Fußnoten
- 1
World Justice Project - Rule of Law Index
Freedom House Index - Countries and Territories
P.A. Turkey. 2025. Turkey Records Highest Inflation Among OECD Countries
World Prison Brief data - Turkey
P.A. Turkey. 2025. RSF: Turkey Ranks 159th in 2025 Press Freedom Index Amid Ongoing Repression.
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- 3
Hrant Dink Foundation. 2011. Social and Economic History of Diyarbakır and Region
- 4
Entschuldigungskampagne "özür diliyorum". 2008.
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Euronews. 2021. Bahçeli'den 'Ermeni soykırımı' tepkisi: Tehcir kararı bugün olsa yine uygulanmalı.
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In jenen Jahren gab es in der Bevölkerung mehrere Redewendungen, um den Völkermord zu benennen, sei es auf Armenisch (aghed/Unglück, mets yeghern/große Katastrophe), auf Kurdisch (fermane/Edikt, qirkirina/Massaker) oder auf Türkisch (Kasim/Mord, tehcir/Deportation, sevk ve iskân/Versetzung und Umsiedlung).